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Schopenhauers Kosmos

 

 Erkenntnis.

1) Woher das Bedürfnis der Erkenntnis überhaupt entsteht.

Die Notwendigkeit, oder das Bedürfnis der Erkenntnis überhaupt entsteht aus der Vielheit und dem getrennten Dasein der Wesen, also aus der Individuation. Denn denkt man sich, es sei nur ein einziges Wesen vorhanden; so bedarf ein solches keiner Erkenntnis, weil nichts da ist, was von ihm selbst verschieden wäre, und dessen Dasein es daher erst mittelbar, durch Erkenntnis, d. h. Bild und Begriff, in sich aufzunehmen hätte. (W. II, 310.)

2) Grund- und Urform der Erkenntnis.

Die Grund- und Urform alles Erkennens ist Das, was man als das Zerfallen in Subjekt und Objekt, in ein Erkennendes und Erkanntes, bezeichnet, also das Bewusstsein. (P. I, 89; II, 291. Vergl. Bewusstsein.)

3) Physiologische und metaphysische Ansicht der Erkenntnis.

Die ganze Form des Erkennens und Erkanntwerdens ist bloß durch unsere animale, mithin sehr sekundäre und abgeleitete Natur bedingt, also keineswegs der Urzustand aller Wesenheit und alles Daseins. (P. II, 291. W. II, 564.) Das Erkennen gehört als Tätigkeit des Gehirns, mithin als Funktion des Organismus, der bloßen Erscheinung an. (W. II, 565.) Die Erkennbarkeit überhaupt, mit ihrer wesentlichsten, daher stets notwendigen Form von Subjekt und Objekt, gehört bloß der Erscheinung an, nicht dem Wesen an sich der Dinge. Wo Erkenntnis, mithin Vorstellung ist, da ist auch nur Erscheinung, und wir stehen daselbst schon auf dem Gebiete der Erscheinung. (W. II, 735 fg.) Aber, obgleich das Erkennen als Funktion des Organismus zur Erscheinung gehört, so gehört es doch zur Erscheinung des Dinges an sich, d. i. des Willens; auch in ihm objektiviert sich der Wille und zwar als Wille zur Wahrnehmung der Außenwelt, also als ein Erkennenwollen. So groß und fundamental daher auch der Unterschied des Wollens vom Erkennen ist, so bleibt dennoch das letzte Substrat Beider das selbe, nämlich der Wille, als das Wesen an sich der ganzen Erscheinung; das Erkennen aber, der Intellekt, welcher im Selbstbewusstsein sich durchaus als das Sekundäre darstellt, ist nicht nur als sein Akzidenz, sondern auch als sein Werk anzusehen und also durch einen Umweg doch wieder auf ihn zurückzuführen. Physiologisch angesehen ist das Erkennen eine Funktion eines Organs des Leibes, des Gehirns, metaphysisch hingegen ist es Objektivation des Willens und zwar des Willens zu erkennen. (W. II, 293.)

4) Zweck der Erkenntnis.

S. unter Bewusstsein: Ursprung und Zweck des Bewusstseins.

5) Bestandteile der Erkenntnis.

Die Erkenntnis hat einen formellen und materiellen Bestandteil. Das Angeborene, daher Apriorische und von der Erfahrung Unabhängige unseres gesamten Erkenntnisvermögens macht den formellen Teil aus. (Vergl. Apriori.) Alles hingegen, was sich nicht auf diese subjektive Form, selbsteigene Tätigkeitsweise, Funktion des Intellekts zurückführen lässt, mithin der ganze von außen, d. h. aus der von der Sinnesempfindung ausgehenden objektiven Anschauung kommende Stoff bildet den materiellen Teil der Erkenntnis. (G. 115.)

6) Arten der Erkenntnis.

Es gibt zwei grundverschiedene Arten der Erkenntnis. Die eine ist die dem Satz vom Grunde unterworfene, die andere die von diesem Satze unabhängige. Die erstere ist die gemeine, d. i. die dem Willen dienende Erkenntnis, zu der auch noch die Wissenschaft gehört, die sich nur durch höhere systematische Form von der gemeinen Erkenntnis unterscheidet; die zweite ist die willensfreie Erkenntnis. Gegenstand der ersteren sind die einzelnen Dinge und ihre Relationen zu einander und zum Willen, Gegenstand der letzteren die Ideen. Subjekt der ersteren ist das Individuum, Subjekt der letzteren das reine Subjekt des Erkennens, das Genie. (W. I, 181. 208 ff. Vergl. auch Idee und Genie.)
Die dem Satz vom Grunde unterworfene Erkenntnis hat wieder zwei Unterarten. Sie zerfällt nämlich in die anschauende oder Verstandes-Erkenntnis und in die abstrakte (begriffliche) oder Vernunft-Erkenntnis. (Über beide vergl. Anschauung und Begriff.)

7) Grade der Erkenntnis.

Das Erkennen wird um so deutlicher, um so reiner, um so objektiver, je mehr in der aufsteigenden Tierreihe der Intellekt sich entwickelt, vollkommener wird, und je mehr dadurch das Erkennen sich vom Wollen sondert. In dem Maße, als in der aufsteigenden Tierreihe das Nerven- und das Muskelsystem sich immer deutlicher von einander sondern, bis das erstere in den Wirbeltieren und am vollkommensten im Menschen sich in ein organisches und zerebrales Nervensystem scheidet und dieses wieder sich zu dem überaus zusammengesetzten Apparat von großem und kleinem Gehirn, verlängertem und Rücken-Mark, Zerebral- und Spinal-Nerven, sensiblen und motorischen Nervenbündeln steigert; in demselben Maße sondert sich im Bewusstsein immer deutlicher das Motiv von dem Willensakt, den es hervorruft, also die Vorstellung vom Willen, und dadurch nun nimmt die Objektivität des Bewusstseins beständig zu, indem die Vorstellungen sich immer deutlicher und reiner darin darstellen. Die Objektivität der Erkenntnis, und zunächst der anschauenden, hat unzählige Grade, die aus der Energie des Intellekts und seiner Sonderung vom Willen beruhen und deren höchster das Genie ist. (W. II, 329 fg. N. 74-78.)

8) Objektiver Gehalt der Erkenntnis.

Je mehr Notwendigkeit eine Erkenntnis mit sich führt, je mehr in ihr von Dem ist, was sich gar nicht anders denken und vorstellen lässt — wie z. B. die räumlichen Verhältnisse —, je klarer und genügender sie daher ist; desto weniger rein objektiven Gehalt hat sie, oder desto weniger eigentliche Realität ist in ihr gegeben; und umgekehrt, je mehr in ihr als rein zufällig aufgefasst werden muss, je mehr sich uns als bloß empirisch gegeben aufdrängt; desto mehr eigentlich Objektives und wahrhaft Reales ist in solcher Erkenntnis; aber auch zugleich desto mehr Unerklärliches, d. h. aus Anderem nicht weiter Ableitbares (W. I, 145.)

9) Warum es kein Erkennen des Erkennens gibt.

Das vorstellende Ich, das Subjekt des Erkennens kann, da es, als notwendiges Korrelat aller Vorstellungen, Bedingung derselben ist, nie selbst Vorstellung oder Objekt werden. Daher also gibt es kein Erkennen des Erkennens; weil dazu erfordert würde, dass das Subjekt sich vom Erkennen trennte und nun doch das Erkennen erkennte, was unmöglich ist. (G. 141.)
Unsere Erkenntnis sieht, wie unser Auge, nur nach außen und nicht nach innen, so dass, wenn das Erkennende versucht, sich nach innen zu richten, um sich selbst zu erkennen, es in ein völlig Dunkles blickt, in eine gänzliche Leere gerät. (P. II, 47.) Richtet sich das Subjekt des Erkennens nach innen, so erkennt es zwar den Willen, welcher die Basis seines Wesens ist, aber Dies ist für das erkennende Subjekt doch keine eigentliche Selbsterkenntnis, sondern Erkenntnis eines Andern, von ihm selbst noch Verschiedenen, welches nun aber, schon als Erkanntes, sogleich nur Erscheinung ist. (P. II, 48. W. II, 294.)
(Vergleiche auch unter Bewusstsein: Beschränkung des Bewusstseins auf Erscheinungen.)

10) Einfluss des Willens auf die Erkenntnis.

Auf der Identität des erkennenden mit dem wollenden Subjekt beruht der Einfluss, den der Wille auf das Erkennen ausübt, indem er es nötigt, Vorstellungen, die demselben ein Mal gegenwärtig gewesen, zu wiederholen, überhaupt die Aufmerksamkeit auf dieses oder jenes zu richten und eine beliebige Gedankenreihe hervorzurufen. Der Wille ist auch der heimliche Lenker der sogenannten Ideenassoziation. (G. 145 fg. Vergl. Gedanken-Assoziation.)
Der Einfluss des Willens auf die Erkenntnis zeigt sich ferner besonders darin, dass jeder Affekt, oder Leidenschaft, die Erkenntnis trübt und verfälscht, ja, jede Neigung oder Abneigung nicht etwa bloß das Urteil, sondern schon die ursprüngliche Anschauung der Dinge entstellt, färbt, verzerrt. (W. II, 424 fg.)

11) Einfluss der Erkenntnis auf den Willen.

S. Besserung, und unter Charakter siehe: Aufhebung des Charakters.

12) Einfluss der Erkenntnis auf den Grad der Empfindung und des Leidens.

Wie die Erscheinung des Willens vollkommener wird, so wird auch das Leiden mehr und mehr offenbar. In der Pflanze ist noch keine Sensibilität, also kein Schmerz; ein gewiss sehr geringer Grad von Leiden wohnt den untersten Tieren, den Infusorien und Radiarien ein; sogar in den Insekten ist die Fähigkeit zu empfinden und zu leiden noch beschränkt; erst mit dem vollkommenen Nervensystem der Wirbeltiere tritt sie in hohem Grade ein, und in immer höherem, je mehr die Intelligenz sich entwickelt. In gleichem Maße also, wie die Erkenntnis zur Deutlichkeit gelangt, das Bewusstsein sich steigert, wächst auch die Qual, welche folglich ihren höchsten Grad im Menschen erreicht, und dort wieder um so mehr, je deutlicher erkennend, je intelligenter der Mensch ist. Der, in welchem der Genius lebt, leidet am meisten. (W. I, 365 fg.) Die Klarheit der Intelligenz erhöht, mittelst der lebhafteren Auffassung der äußeren Umstände, die durch diese hervorgerufenen Affekte. Daher z. B. lassen sich junge Kälber ruhig auf einen Wagen packen und fortschleppen; junge Löwen aber, wenn von der Mutter getrennt, bleiben fortwährend unruhig und brüllen unablässig; Kinder in einer solchen Lage würden sich fast zu Tode schreien und quälen. Auf diesem Verhältnis beruht es, dass der Mensch überhaupt viel größerer Leiden fähig ist, als das Tier; aber auch größerer Freudigkeit, in den befriedigten und frohen Affekten. Ebenso macht der erhöhte Intellekt ihm die Langeweile fühlbarer, als dem Tier, wird aber auch, wenn er individuell sehr vollkommen ist, zu einer unerschöpflichen Quelle der Kurzweil. (W. II, 317 fg. P. II, 315—318.)
Die Steigerung des Schmerzes mit der Erhöhung der Erkenntniskraft im Menschen lässt sich auf ein allgemeineres Gesetz zurückführen. Erkenntnis ist, an sich selbst, stets schmerzlos. Der Schmerz trifft allein den Willen und besteht in der Hemmung, Hinderung, Durchkreuzung desselben; dennoch ist dazu erfordert, dass diese Hemmung von der Erkenntnis begleitet sei. Wie nämlich das Licht den Raum nur dann erhellt, wann Gegenstände da sind, es zurückzuwerfen; wie der Ton der Resonanz bedarf; — eben so nun muss die Hemmung des Willens, um als Schmerz empfunden zu werden, von der Erkenntnis, welcher doch, an sich selbst, aller Schmerz fremd ist, begleitet sein. (P. II, 319.)

13) Worin die Reife der Erkenntnis besteht und wodurch sie bedingt ist.

Die Reife der Erkenntnis, d. h. die Vollkommenheit, zu der diese in jedem Einzelnen gelangen kann, besteht darin, dass eine genaue Verbindung zwischen seinen sämtlichen abstrakten Begriffen und seiner anschauenden Auffassung zu Stande gekommen sei; so dass jeder seiner Begriffe, unmittelbar oder mittelbar, auf einer anschaulichen Basis ruhe, als wodurch allein derselbe realen Wert hat; und ebenfalls, dass er jede ihm vorkommende Anschauung dem richtigen, ihr angemessenen Begriff zu subsumieren vermöge. Diese Reife ist allein das Werk der Erfahrung und mithin der Zeit; sie ist ganz unabhängig von der sonstigen, größeren, oder geringeren Vollkommenheit der Fähigkeiten eines Jeden, als welche nicht auf dem Zusammenhang der abstrakten und intuitiven Erkenntnis, sondern auf dem intensiven Grade Beider beruht. (P. II, 668.)